Den Käfighennen mit einer Virtual Reality-Brille das Gefühl vermitteln, durch grüne Wiesen zu stolzieren: Das will der US-Forscher Austin Stewart.

So soll es aussehen, das glückliche Käfig-Hendl mit Virtual Reality Brille, wie Austin Stewart es sieht. © A.Stewart

Alle technischen Möglichkeiten auszureizen, um Nutztieren eine artgerechte Haltung zu bieten: Das ist der Weg, den der Wissenschaftler Austin Stewart in Bezug auf das Dilemma der Käfighennen vorschlägt. Durch die Flucht in eine virtuelle Welt könnten sie ein deutlich glücklicheres Leben führen, sagt er. Zumal immer mehr Menschen für eine artgerechte Haltung ihrer Brathendeln und Eierlegerinnen plädierten. Ein Scherz ist das Ganze übrigens nicht. Der Enge des Alltags entfliehen und sich eine zweite, schönere Welt nach den eigenen Vorstellungen erschaffen: Ein neues Ich kreieren, Kleidung, Frisur und Haarfarbe auswählen und mit diesem Ideal-Ich alles tun, was man im echten Leben auch so tut: andere treffen, Geschäfte machen, sich in Metropolen umsehen: Diese Möglichkeit gibt es für Menschen schon seit 1999. Sie trägt den Namen “Second Life” und es handelt sich dabei um eine virtuelle Welt, in der die User sich eine zweite Identität nach Wahl zulegen können. Ganze 36 Millionen haben es in der Glanzzeit 2013 getan. Austin Stewart, Assistenz-Professor für Design an der Iowa State University inspirierte diese Idee; er dachte sie über Jahre einen Schritt weiter und stellte sich die Frage: Warum das Ganze nicht auch bei Nutztieren einsetzen?

“Second Livestock”

Es sind Hühner, die nach Meinung des Technikentwicklers, Forschers und Künstlers künftig als erste in der Tierwelt in den Genuss eines virtuellen Lebens kommen sollen. Er gab der Idee einen Namen – Second Livestock, und einen, wie es scheint, vom Blockbuster Matrix inspirierten Sinn:

Die Nutztiere sollen denken, sie seien frei und könnten sich auf weiten grünen Wiesen austoben, knackige Körner fressen und alles tun, was so ein freilaufendes Hendl eben tut, während sie in Wirklichkeit in kleinen Käfigen gefangen sind.

Denn frei nach Stewarts Denkansatz schätzen nicht nur Menschen die Möglichkeiten, in die virtuelle Realität zu entfliehen. Auch Zuchttiere könnten dadurch ein deutlich glücklicheres Leben führen. Zumal immer mehr Menschen für eine artgerechte Haltung ihrer Nutztiere plädieren. Die Hennen erhalten eigene Virtual-Reality-Brillen, sogenannte Coculus Rifts. Das ist übrigens eine Anlehnung an die vom Sozialen Netzwerk Facebook übernommene Virtual-Reality-Brille Oculus Rift, deren Hersteller verspricht, dass sich mit der Brille besonders tief in virtuelle Welten abtauchen lässt. Durch die eigentlich kleinen Monitore unmittelbar vor den Augen wirkt das Bild nämlich so groß wie eine Leinwand. Im Falle der Hühner agiert Second Livestock als Unternehmen, das Virtual Reality-Brillen im Mini-Format herstellt, die perfekt an die Schädelform der Tiere angepasst sind. Besonderer Wert wird dabei auf ein leichtes Design der Brillen gelegt, nicht zuletzt, um den Vogel-Nacken zu schonen. Einmal aufgesetzt, leben die Hühner damit jeweils in einer kleinen Zelle, glauben aber dank der Brille, die ihnen eine virtuelle Welt zeigt, sie hüpften im grünen Gras mit ihren tierischen Freunden herum, ohne Zäune versteht sich, und labten sich an saftigem Futter.

© A. Stewart

Bewegung bringt ein Gummiball in die Traumwelt, der als Laufband fungiert, das in alle Richtungen beweglich ist. Sonne und Luft? Gibt es auch: Erstere kommen gezielt per Lichtröhre, um die Vitamin-D-Bildung anzuregen, zweitere wird für jeden Käfig zwecks Krankheitsprophylaxe individuell gefiltert. Das selbstverständlich ausgewogene Futter wird so in der virtuellen Welt platziert, dass die Tiere in Wahrheit aus Näpfen fressen, die in ihrem Käfig hängen. Und schließlich darf für eine vollwertige Virtual Reality-Brille auch noch das Headset mit Mikrofon nicht fehlen. Wo das Federvieh nach der Stewartschen Vision künftig gehalten wird, steht auch schon fest: in einer Art rundem Wolkenkratzer. Ansiedeln könnte man diese Gebäude auch mitten in der Stadt. Etwaige Stressfaktoren und Raubtiere, denen die Hennen in der Natur begegnen könnten, wären damit von vornherein ausgeschlossen. Alles für ein gesundes Hühnerleben bis zur Schlachtung, ist man verlockt zu denken . . .

Führt die virtuelle Freiheit tatsächlich zum Glück?

Wir fassen zusammen: Künftig kann man als Züchter seine Tiere in Mietparzellen in einer modernen Aufzuchtanlage unterbringen, die mit energieeffizienter Infrastruktur, Bewegungskontrolle und eigener Frischluftversorgung punktet. Von automatisch gesendeten Mails vom Hühnerkäfig an den Bauern ist die Rede, falls ein Huhn weniger aktiv sei als sonst; außerdem von technischem Support durch den Produzenten und eine Software, die Endverbraucher und Hof direkt miteinander verbinde. Und selbst nach der Schlachtung ist Second Livestock noch im Sinne der Kunden tätig und vermittelt die Tiere an Käufer.

Mit Freiwilligen demonstriert Stewart die Brille, so kann man sich in die Siutation den Huhns versetzen. ©A.Stewart

Dass die virtuelle Freiheit tatsächlich zum “Happy Hendl” führt, sprich ein glückliches Tierleben in der konventionellen Nutztierhaltung ermöglicht: Daran will freilich nicht jeder glauben, der Stewarts gut frequentierte Vorträge besucht, in denen er seine Idee der Virtual Reality-Brille in allen Details vorstellt. Von daher sind Ärger, Unmut, Kritik und etwaige andere negative Emotionen das tägliche Brot des Forschers und er hat längst eine perfekte Antwort darauf gefunden: Er rät seinen Kritikern, ihr eigenes Leben zu hinterfragen. “Wir selbst suchen aktiv virtuelle Erlebnisse, indem wir beispielsweise online gehen oder Videospiele spielen. Leben wir deswegen ein schreckliches Leben?”, entgegnet er. Der Mann nimmt sein Projekt selbst sehr ernst. Es ist ihm nicht nur ein Anliegen, damit eine kritische Debatte über Tierhaltung anzustoßen, sondern auch eine über die Menschen, die ihr Leben ins World Wide Web verlagern. Das Projekt ist ein Tierschutzprojekt allererster Güte, das nicht nur auf ungewöhnliche Optionen einer artgerechten Haltung aufmerksam machen will, sondern auch noch die Beziehung des Menschen zur Technologie kritisch hinterfragt.

Nutztierhaltung neu erfinden

Dass es neue Haltungsmethoden braucht, davon ist der Grenzgänger zwischen Technik und Kunst ebenso überzeugt, wie davon, dass der Mensch seinen Fleischkonsum nicht aufgeben wird: “Also müssen wir herausfinden, wie wir Tiere im großen Stil human behandeln können”, sagt Stewart. Allein aus diesem Grund sei sein Projekt wichtig. “Es handelt sich um eine Zukunftsvision, die auf dem Gedanken basiert, dass die Menschen Tiere nicht wesentlich anders behandeln sollen als sich selbst.” Ihnen in der virtuellen Welt den gleichen geschützten Freiraum zu bieten, den man sich selbst nimmt, das gehört für ihn dazu. Und weil er sein Projekt eben sehr ernst nimmt, lässt der Forscher die Zuhörer in seinen Vorträgen über die aktuelle Realitätsferne gern lange im Unklaren. Wie viele Leute seinen Ausführungen glauben, das hat ihn allerdings überrascht: “Ehrlich gesagt hätte ich erwartet, dass mehr Menschen den Fake durchschauen.” Zwar versuche er während seiner Präsentationen das Projekt mit einer Ehrlichkeit vorzustellen, dass das Publikum sich frage: Ist das echt oder nicht? Die meisten Leute glaubten dennoch am Anfang, dass die Sache nicht echt sei. Kündige er dann aber an, dass man die Technologie von Second Livestock in ein paar Minuten selbst ausprobieren könne, ändere sich das sehr schnell. “Es ist großartig, die Gesichter der Leute in diesem Moment zu sehen.”

Bauern sind schlauer

In der Folge holt er einen Freiwilligen aus dem Publikum und demonstriert die Brille, die an die Augenpositionen der Hühner angepasst ist. Nur so kann sich der Proband auch in das Tier hineinversetzten. An den Bauern ist er freilich bis jetzt gescheitert: “Als Spezialisten haben die Landwirte die Farce sofort erkannt; ich habe deswegen eigentlich mit Ablehnung gerechnet.” Die kam aber nicht. Seither wisse er den Humor von Bauern zu schätzen, sagt Stewart. Ein echtes Huhn kommt bei seinen Präsentationen nicht zum Einsatz: “Ich hatte darüber nachgedacht, ob ein Test nötig sei, um das Projekt glaubwürdig zu machen. Der Test einer experimentellen Technologie an einem Huhn schien mir jedoch ethisch verwerflich.”Ob er die Virtual Reality-Brille je einem Huhn selbst aufsetzen wird? “Unwarscheinlich”, meint er. Allerdings könne es gut sein, dass jemand anders das einst tun werde.

http://www.theaustinstewart.com/secondlivestock.html