Wein kann man ohne grundlegendes Wissen einfach trinken und genießen . Man kann aber auch ein wenig tiefer ins Glas blicken und Wein verstehen lernen.

Wein und Wei(h)nachten. Was für ein passendes und schönes Wortspiel. ©Unsplash

Wenn wir Wein trinken, treffen olfaktorische Wahrnehmungen auf persönliche Vorlieben und Erwartungen. Denn wir bringen alle eine gewisse Grunderwartung und -ausstattung mit, wenn es um Genuss geht. Über die Sinnesorgane nähern wir uns dem Vorhaben und nehmen auf: die Augen Viskosität und farbliches Spektrum, das in Frische, Körper, Süße oder Reife des Weines übersetzt wird. Die Hand, die das Glas hält, nimmt die Temperatur wahr. Die Nase hingegen wirft uns mitten ins Geschehen, ist reine Emotion. Sie ist die Anführerin beim Genuss von Lebensmitteln. Erst danach kommen bei der ersten mündlichen Probe – wenn überhaupt – Zunge und Gaumen ins Spiel. Nicht ganz Knigge-konform, aber bei Verkostungen durchaus angeraten ist das Schlürfen dieses Getränks. Es bringt neue Nachrichten für die Nase. Die Atemluft trägt ihr neue Aromastoffe zu und lässt uns weitere Eigenschaften des Weins entdecken. Manche davon flüchtig, manche anhaltend. 

Poesie und Empfinden

Wein zu genießen ist einfach. Seinen Genuss in Worte zu fassen komplex. Vielfach fantasievolle, nahezu poetische und öfter auf Aromen weit außerhalb von kulinarischen Bezugspunkten verweisende Beschreibungen wie Tabak, Petrolton (Tankstelle), Holz, Rosen oder Leder eröffnen ein wahrlich öno-erotisches Wort-Vorspiel vor dem eigentlichen Trinkerlebnis. Das widerfährt kaum einem anderen Genussmittel in dieser Konsequenz, führen doch Weinbeschreibungen unmittelbar zur reinen Leichtigkeit sensorischen Seins. Wein schmeckt nach Wein und ist doch so vieles mehr. 

Unendlichkeit und Universalität ganz allgemein

Gerüche sind immer und überall. Ein Mensch hat eine Unzahl davon abrufbar gespeichert. Nach einer Studie von 1927 schätzte man, dass wir ca. 10.000 Gerüche erinnern. Doch diese Zahl ist ins Astronomische explodiert: von bis zu einer Billion Gerüche, die wir unterscheiden können, gehen Wissenschaftler heute aus. Sie haben die Düfte in ihre einzelnen Komponenten zerlegt und diese neue Berechnung angestellt. Nachvollziehbar, wenn wir alle olfaktorischen Eindrücke zusammenzählen, die uns tagtäglich erreichen. Schon allein der typische Rosenduft besteht aus 275 Ingredienzen. 

Wie es funktioniert

Beim Einatmen gelangen Geruchsmoleküle aus unserer Umgebung in die Nase und streichen über die Riechschleimhaut, auf der sich die mit mehr als 380 verschiedenen Rezeptortypen ausgestatten Riechzellen befinden. Nicht alle haben eine „Wein-Nase“. Denn wir sind unterschiedlich sensibel auf Gerüche und deren Erkennen, Zuordnen und Benennen. Standard allerdings ist, dass die Wahrnehmung eines Geruchs mit seiner Beurteilung einhergeht. Noch bevor bewusst eine Entscheidung fällt, hat unser Unterbewusstes schon entschieden – positiv oder negativ, ja oder nein. Mag man oder mag man nicht – das gilt auch bei der Partnerwahl, die wesentlich danach erfolgen soll, ob man sich „riechen“ kann.

Memory-Spiele und Autobiografie

Gerüche sind ein privates Archiv. Sie führen die Erinnerung zu vergangenen, oft weit entlegenen Plätzen, Ereignissen oder Lebensabschnitten und lassen sie neu entstehen. Weihnachten ist in unserem Kulturkreis meist ein spezieller Knotenpunkt solcher Erinnerungen. Oft wünschen wir uns, Gerüche „wie damals“ wieder zu erleben, weil sie uns Nähe, Geborgenheit und Gemeinsamkeit vermitteln oder Menschen ins Gedächtnis rufen, die wir schätz(t)en. Dieses sogenannte „episodisch-autobiographische Gedächtnis“ wird von den anderen Sinnen mit unterstützt. Farben, Formen, Berührungen, Haptik, Klänge, Geräusche und natürlich der Geschmack bestimmter Gerichte – „wie bei Oma!“ – tragen dazu bei. Über die Speisen sind wir wieder bei der Nase. Freilich könnte man sie sich auch zuhalten, dann würde man aber wenig bis gar nichts mehr schmecken. Also Nasen auf!

Zurück zu Wein

Die Aromendefinition ist herausfordernd. Sie erschließt den Charakter der Traubensorte – ob Grüner Veltliner, Sauvignon Blanc, Blaufränkisch usw. – von fruchtig, floral bis würzig ebenso wie deren jeweilige örtliche Kultivierung, dazu die Wetterbedingungen eines Jahrgangs sowie die Bodenbeschaffenheit von Schiefer bis Sand, von eisenhaltig bis salzig. Zu den natürlichen Faktoren gesellen sich önologische und kellertechnische Einflüsse. In der Entwicklung des Weins lassen sich drei Aroma- und Bukettstufen unterscheiden: Primäraromen werden durch die Rebsorte bestimmt. Sekundäromen wie Butter, Toast, Biskuit entstehen während der alkoholischen Gärung durch Hefen und Milchsäurebakterien. Das Tertiärbukett entwickelt sich nach der Gärung während des Reifeprozesses abhängig von der Art des Ausbaus, ob Stahltank oder Holz, das Aromen wie Karamell, Schokolade oder Vanille entstehen lässt. 

Die Nase im Glas

Nimmt man ohne zu schnüffeln sofort Aromen wahr, gilt der Wein als ausgeprägt; wird trotz nachhaltigem Schnüffelns wenig wahrgenommen, als dezent. Zwischen diesen Polen liegt die ganze große Bandbreite möglicher Weinaromen. Und dann ist da noch das Glas selbst, das durch seine Gestaltung Aromen hervorhebt oder unterdrückt. Das ist aber eine andere Geschichte.

Das Schöne beim Gerüche-Erkennen und Bestimmen ist, das jeder für sich recht hat. Und immer sind es Momentaufnahmen, auch wenn wir uns schon beim Riechen einen Vor-Geschmack formen. Für den weiteren Vorgang des Schmeckens und Trinkens ist das richtungsweisend. Doch manchmal ergibt sich überraschend im Verschmelzen von Nase und Gaumen ein ganz unerwartetes Geschmacks- und Aromaspiel. 

Auf Zeit, Ort und Anlass kommt es an

Die Chronobiologie lässt uns in der Früh und am Vormittag anders riechen und schmecken als am Nachmittag oder abends. Ebenso beeinflusst es das Kostergebnis, ob es hell oder dunkel ist, ob im Freien oder in geschlossenen Räumen verkostet wird. 

Zu kühler Wein bleibt verhalten, zu warmer Wein – und das gilt auch für Rotwein – kommt zu breit daher. Gelegenheit und Gesellschaft verändern das Weinerlebnis wiederum. Ist man in Feierlaune ist der Trinkfluss eines Weins weit entscheidender als die sublime Aromatik oder Sortentypizität. Jung verliebt beim gemeinsamen Restaurantbesuch einseitig seine Weinkenntnisse zu sehr zur Schau zu stellen, ist wahrscheinlich für die Begleitung ernüchternd. Hier gilt es, die Nase ein wenig zu zügeln und das Gesamterlebnis im Auge zu behalten.  

Ein guter Abgang

Wo ein Anfang, da ist auch ein Ende und auf dieses kommt es schlussendlich an. Als Abgang bezeichnet man jene Eindrücke, die wir nach dem Hinunterschlucken des Weines wahrnehmen. Wie lange dieser im Abgang nachwirkt, ist ein wichtiger Hinweis auf Qualität. Ein Abgang ist „kurz”, wenn dieser nur wenige Sekunden anhält. Ein guter Wein erfreut im Abgang den Gaumen eine Minute und mehr. Da kann man ruhig von einem langen Abgang sprechen. Wobei wie bei Geschmack auch die Empfindungsdauer sehr subjektiv und somit unterschiedlich ist. Aber wir wissen, wovon wir sprechen. Wie oft bei Genussverhalten kommt es auf die Länge an, weil eindeutiges Zeichen der Güte und der Erlesenheit des Getränks: Balancierte Harmonie und anhaltend komplexe Aromatik stellen zufrieden und lassen uns mehr bei wesentlich weniger Schlucken spüren. 

Zu guter Letzt

Jedoch Geschmäcker sind verschieden. Letztendlich zählt, ob einem ein Wein schmeckt und beim Trinken Freude bereitet. Wer sich auf die Botenstoffe seiner Freude einlässt, erwirbt ein ganz persönliches Aromen- und Sorten-Wissen und steckt so nebenbei eine Genusskarte der eigenen Vorlieben ab. Soweit wir wissen, der beste Weg, um zur Weinkennerin, zum Weinkenner zu werden.