Revolution, Baby!
Die industrielle Landwirtschaft ist schuld an chronischen Krankheiten, sagt Martin Grassberger und fordert eine Revolution. Sein Buch steckt hinter Tür 12.
“Es ist seit langem etwas faul im ländlichen Raum. Allein 60 Prozent der europäischen Ackerflächen sind für Tierfutter reserviert und dienen daher nur auf dem Umweg des gemästeten Rinder-, Sau- und Hühnermagens der menschlichen Ernährung.”
Dummerweise führt dieser Raubbau am Ackerboden, genau wie die industrielle Landwirtschaft und die Umweltverschmutzung am Ende des Tages zu einer Flut an chronischen Krankheiten. Denn auch der Großteil der verbliebenen 40 Prozent Ackerflächen liefert nicht die nötigen gesunden Lebensmittel. Vielmehr wird der dort angebaute Raps, der Mais, das Elefantengras & Co heute bevorzugt zu erneuerbaren Energieträgern. Wer sagt das? Der Humanbiologe und Mediziner Martin Grassberger in seinem Buch “Das leise Sterben”. Und weil das so ist, geht’s ans Sterben. Die Arten tun es, die Bauern, die fruchtbaren Äcker (samt Leben in und auf ihnen) und unsere Gesundheit. Das überlieferte Wissen, die ländlichen Traditionen, die dörflichen Strukturen und die Kulturlandschaft auch. Die Saatgutvielfalt schwindet. Es gibt nur mehr wenige Nutztierrassen. Und schließlich wird auch in den Schlachthöfen leise gestorben, nach CO 2-Narkose und fließbandmäßiger Durchtrennung der Halsschlagadern. Dabei sei das Problem weniger das Sterben, als das artfremde Leben unter widrigsten Umständen in erbärmlichen, unsichtbaren Zuchthäusern, sagt der Humanbiologe.
Was genau hat das jetzt mit chronischen Krankheiten zu tun?
Das ist leicht erklärt: “Wenn die Natur durch Umweltgifte und Chemikalien stirbt, stirbt irgendann der Mensch. Das sehen wir an den modernen Krankheiten”, erläutert Grassberger. Wobei die Palette an “neuen Seuchen” groß ist. Sie reicht hohem Blutdruck, über Fettleber, Rheumatoide Arthritis, Alzheimer und Reizdarm, bis zu Allergien und Krebs. Mal ganz abgesehen von der Abnahme der Fruchtbarkeit und einer früheren Pubertät.
Der Missing Link? Heißt Mikrobiom. Mit den Arten stirbt die bakterielle Vielfalt. Und zwar im Erdboden und im Darm.
Die Chemie in der Landwirtschaft hat daran einen großen Anteil. Gesunde Böden, bei denen in einem Teelöffel Erde Milliarden Bakterien leben, die gibt es kaum mehr. Und ein gestörtes Mikrobiom führt zu Krankheiten. Parkinson, Diabetes- oder Alzheimer-Patienten hätten oft jahrelang Verdauungsprobleme, sagt Grassberger. “Da hat die Medizin einen blinden Fleck. Verändert hat sich ja nicht der Mensch, sondern die Umwelt und was er isst”. Beim Boden ist das übrigens ähnlich. Ist sein Mikrobiom geschädigt, tut er sich schwer im Nahrung produzieren. Um bis zu 40 Prozent weniger werden das die heimischen Böden die nächsten Jahrzehnte tun.
Keine Artgerechte Nahrungsmittel-Produktion
Gut, die Landwirtschaft allein bekommt nicht den schwarzen Peter, und als Bauern-Basher versteht sich Grassberger sowieso nicht. Da wären nämlich auch noch der Zucker und die simplen Kohlehydrate, die verarbeiteten Nahrungsmittel, die Zusatzstoffe wie etwa Emulgatoren. “Die Bakterien im Darm lieben komplexe Kohlehydrate und Ballaststoffe wie in grünem Gemüse – nicht simple Stärke wie Brot.” Grassberger erläutert aber nicht nur die Zusammenhänge auf eine extrem klare Art und Weise. Er gibt auch Tipps, mit denen jeder Einzelne von uns seine Gesundheit erhalten kann. Und er stellt Projekte vor, die die Revolution in der Landwirtschaft vorantreiben. Wie die aussehen soll? Ökologische und biologische Landwirtschaft werden zur Selbstverständlichkeit, der Boden ist wieder aufgebaut und weniger anfällig für Wetterextreme. Für Biotreibstoffe und Futtermittel steht weniger Fläche zur Verfügung. Die kleinteilige, regionale Landwirtschaft erlebt einen neuen Aufschwung. Wird es weniger Erträge geben? Ja sicher, aber hochwertigere. Kann man damit künftig 10 Milliarden Menschen ernähren. Grassberger glaubt daran. Was muss der Mensch dafür tun? Weniger Fleisch essen. Und sein Ernährungs- und Konsumverhalten ändern. Denn klar ist auch: Umweltfreundliches Leben und billige Nahrungsmittel lassen sich nicht unter einen Hut bringen. Wenn der Landwirt wie heute von einem Euro, den wir ausgeben, im Idealfall nur mehr 20 Cent erhält, krankt das System. In den 1970ern waren es noch 50 Cent, in den 1950ern sogar noch 60 Cent. Gibt es trotz des aktuellen Dilemmas Hoffnung? Ja: “Wie jede Revolution geht auch diese vom Volk aus und hat bereits begonnen.”
12. Dezember: Hinter der zwölften Tür verbirgt sich das zum Wissenschaftsbuch des Jahres nominierte “Das leise Sterben”. Auf unserer Facebook-Seite gibt es zwei Bücher zu gewinnen.
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