Vom Acker auf den Misthaufen. Die EU-Richtlinie zum Krümmungsgrad der Gurke ist zwar 2009 gefallen. Aber auch heute findet sich fast nur perfektes Obst und Gemüse im Regal.

Der Künstler Uli Westphal hat sich den “Mutatos” in einem Fotoprojekt verschrieben. ©Uli Westphal

Zehn Millimeter auf zehn Zentimeter Länge: Was in der EU eine Gurke war und krummer, als es diese Formel erlaubte, hatte noch bis zum Jahr 2009 keine Chance, auf den Markt zu kommen. Dann fiel der irrational anmutende, 1998 eingeführte Krümmungsparagraf, genauso wie weitere 26 weitere Vermarktungsnormen der EU für Obst und Gemüse. Parallel dazu wurden allerdings gleich zehn neue eingeführt; u.a. davon betroffen: Paradeiser, Salat, Äpfel, Erdbeeren und Pfirsiche. Sie müssen sich dem Contest um Form und Aussehen noch immer stellen. Auf allein 18 Seiten definiert die EU die perfekt genormte Beauty eines Apfels.

Dem Elstar mutet die EU zu, er müsse zwischen 70 und 75 mm groß sein, sein Rot-Anteil über 30 Prozent und sein Stiel unverletzt.

Erst dann darf er als Handelsklasse eins verkauft werden – sprich landet als optisch perfekte Ware im Regal. Mit Qualität hat die Elstarsche Beauty übrigens rein gar nichts zu tun.

Perfektionistische Folgen

Die Folgen dieses Schönheitswahns sind naturgemäß eher unschön: Tonnen von hochqualitativem, aber eben optisch nicht entsprechenden Obst und Gemüse verderben direkt auf dem Feld oder finden gleich nach der Ernte ihren Weg auf den Misthaufen. In Italien, so beschreiben es Stefan Kreuzberger und Valentin Thurn in “Die Essensvernichter“, verrotten beispielsweise jährlich 17 Millionen Tonnen Getreide, Obst und Gemüse ungeerntet. In Deutschland bleiben rund 40 Prozent der Ernte aufgrund von ungewöhnlicher Form und Größe auf den Feldern zurück. Und die Situation hierzulande stellt sich nichtS besser dar. 2018 fanden beispielsweise 70 Prozent aller Erdäpfel wegen Schönheitsfehlern keinen Weg zum Endkunden.

30 Prozent landen bei Landwirtschaft und Produzenten im Müll

760.000.000 kg Lebensmittel werden laut einer aktuellen Studie des Ökologie Instituts/WWF jährlich in Österreich verschwendet. 53 Prozent werden dabei in privaten Haushalten weggeworfen. Im Schnitt schmeißt ein durchschnittlicher Haushalt ein Viertel der eingekauften Lebensmittel weg, vieles davon ungeöffnet. 30 Prozent landen bei Landwirtschaft und Produzenten im Müll, 12 Prozent in der Gastronomie und 5 Prozent im Handel.

Noch in bester Erinnerung ist auch der Aufschrei aus Oberösterreich vor einigen Jahren. 40 Prozent des Gemüses würde auf den Feldern liegen bleiben und erst gar nicht geerntet werden. Und in Tirol wandte man sich gleich an den ORF, als wieder mal bestes, aber nicht schönes Gemüse tonnenweise in die Biogasanlage gebracht werden sollte. Später bestätigte Zahlen wurden da auch genannt: Wöchentlich würden zwischen 15 und 25 Tonnen Karotten und Kartoffeln und zwischen 10 und 15 Tonnen Gemüse vernichtet. Im letzten Jahr untersuchten Wissenschafter des Instituts für Abfallwirtschaft der Boku im Rahmen des EU-Projekts “Strefowa” rund 20 Hektar Feldfläche zweier Betriebe in Niederösterreich. Da zeigte sich, dass bis zu drei Prozent des Feldertrags auf den Feldern bleiben, und sogar bis zu 70 Prozent davon marktfähig wäre. Insgesamt fanden sich 1,5 Tonnen genießbare Lebensmittel von sieben Gemüsesorten. Wer ist schuld am Dilemma? Tatsächlich der Handel, der nach wie vor großen Wert auf die Handelsklassen legt, die er bilateral mit den Lieferanten vereinbart? Der die Handelsklasse II-Ware mit kleinen optischen und Farbfehlern verweigert? Und mit Initiativen für nicht normgerechtes Obst und Gemüse – das man dann etwa “Wunderlinge” nennt, Augenauswischerei betreibt, wie Kritiker meinen? Oder ist es der Kunde, der Topqualität verlangt, wie der Obmann des Tiroler Lebensmittelshandel meint. Weder Bauern noch Handel, und auch nicht die Politik, sehen sich jedenfalls imstande, am Beauty-Dilemma im Obst- und Gemüsebereich etwas zu ändern.

Über das Aufbegehren

Also bleiben nur noch wehrhafte Konsumenten, kluge Start Ups und kreative Künstler, die sich des missratenen Obst und Gemüses annehmen. Mittlerweile schon relativ bekannt ist etwa das heimische Start Up Unverschwendet. Satte 1.000.000 Kilo nicht der Norm entsprechendes Obst und Gemüse bekam es 2018 deshalb auch schon angeboten. Eine vielsagende Zahl. Unverschwendet macht daraus Marmelade, Chutney, Sirup, Pesto und weitere Feinkost. Aber auch (noch) unbekannte Player wollen den Markt aufmischen. Etwa Alex, Kathi, Severin und Vici – ein junges Team aus Wien ohne Nachnamen, das die Nicht-Norm Ware bei Bio-Landwirten erwerben und in günstigen Bio-Kisten an Endkunden weiterliefern will.

Geht alles gut, könnte man dafür heuer im Oktober sogar den Preis für das vielversprechendste Social Startup-Projekt im Rahmen des Social Impact Awards gewinnen. Davor hat sich das Quartett bereits erfolgreich bei der Future Founders Challenge präsentiert.

Die Mutato-Collection

Misfits zu inszenieren: Diesen Weg verfolgt der Künstler Uli Westphal mit seinem sogenannten Mutato-Archiv, einer fotografischen Sammlung nicht-standardisierter Früchte, Knollen, Pilze und Gemüse, die eine schillernde Vielfalt an Formen, Farben und Texturen aufweisen (siehe Bild oben). “Die vollständige Abwesenheit botanischer Anomalien in unseren Supermärkten lässt uns die Gleichförmigkeit von dort präsentiertem Obst und Gemüse als natürlich erscheinen“, sagt der Künstler, der eine klare Meinung zum Thema hat: “Obst und Gemüse ist zu einem monotonen, hochgradig stilisiertem Produkt geworden. Wir haben heute ein klar definiertes Bild davon, wie z.B. ein Apfel oder eine Tomate auszusehen hat, und wir begegnen Abweichungen von dieser eingeprägten Norm meist mit Misstrauen, wenn nicht sogar Ekel.“

Breitere Sicht der Dinge

Westphal geht es aber nicht nur um das Problem, dass lediglich optisch makellose Exemplare den Markt erreichen. Es seien ja nicht nur zufällige, morphologische Unregelmäßigkeiten im Wachstum einzelner Pflanzen, die vom Lebensmittelmarkt unterdrückt und ausgefiltert würden. Besonders ertragreiche, gleichförmige, gut aussehende Sorten verdrängten das einst reichhaltige Spektrum landwirtschaftlicher Nutzpflanzenkultivare. Ein Großteil aller vom Menschen entwickelten Sorten sei in den letzten 50 Jahren bereits ausgestorben. Nichtsdestotrotz gäbe es dank der immer weiter steigenden Auswahl importierter und industriell verarbeiteter Lebensmittel weiter die Illusion, dass die Diversität unserer Lebensmittel zunähme, anstatt zu verschwinden.

“The Cultivar Series” ist eine Sammlung von Fotografien, die die Vielfalt der Kulturpflanzensorten enthüllt. ©Uli Westphal

Die generelle Entfremdung des Menschen von der Landwirtschaft und den Prozessen der Lebensmittelproduktion lasse das Sortensterben hinter geschlossenen Vorhängen passieren. Nicht zuletzt deshalb habe er das Mutato-Projekt ins Leben gerufen: “Es dient dazu, das reichhaltige Repertoire an Farben und Formen landwirtschaftlicher Nutzpflanzen zu dokumentieren, und gesellschaftliche Nachfrage und Akzeptanz für diese visuelle und kulinarische Vielfalt zurückzugewinnen.“ Auch ein Weg, den schönen, gar nicht missratenen, krummen Dingern zu Öffentlichkeit zu verhelfen.