Mehlwürmer gegen die Proteinkrise
Das heimische Novel Food Start-up Livin Farms will in großem Stil Mehlwürmer produzieren und damit ein weltweites Problem lösen.
Nein, keine Sorge, wir springen nicht auf den Dschungelcamp-Hype auf! Das, was Sie am obigen Bild sehen, ist ein Lebensmittel der Zukunft: Mehlwürmer, die mit getrockneten Früchten, Nüssen und Sesam zu Energiebällchen verarbeitet wurden. Produziert hat sie das heimische Start-up Livin Farms. Für Gründerin Katharina Unger, deren Eltern einen Biobauernhof im Südburgenland führen, und die Absolventin der Universität für Angewandte Kunst in Wien ist, sind die Mehlwürmer mit keinem Ekelfaktor belegt – wie übrigens auch für weitere zwei Milliarden Menschen auf diesem Planeten nicht, zu deren Esskultur sie gehören. Deshalb, und weil Unger eine weltweite Protein-Krise ortet, will sie die eiweißreiche Alternative zu Hendl, Schwein oder Wild jetzt auch ganz groß rausbringen. Wobei das freilich nicht geplant war. Eigentlich wollte Unger als Industrial Designerin durchstarten, blieb in Hongkong hängen und war mit dem Umstand konfrontiert, dass quasi die gesamten dort erhältlichen Lebensmittel importiert waren und kaum jemand über den Ursprung Bescheid wusste. Sie begann sich daraufhin für Alternativen zu interessieren, dachte über Fliegenlarven nach, landete dann aber bei Mehlwürmern und gründete 2015 Livin Farms. “Mir ist klar geworden, dass wir unbedingt umdenken müssen und ich lieber an einer globalen Lösung für Nahrung und Nachhaltigkeit arbeite, als an Autos und Kopfhörern”, sagt sie.
Das Zuhause mit Würmern teilen
Das erste kommerzielle Produkt nennt sich “The Hive” und ist eine patentierte Mehlwurmfarm in modularer Form um rund 800 US-Dollar für daheim, die in Europa, USA, Kanada, Mexiko, Australien und einigen asiatischen Ländern erhältlich ist. Das Prinzip ist so einfach wie genial. Die Mehlwürmer werden mit Bio-Abfall gefüttert und finden dank Feuchtigkeits- und Temperatursensoren sowie Heizung und Ventilator in einer Box optimale klimatische Bedingungen zum Gedeihen. Und nein, Sie werden die Tierchen nicht in Ihrem Bett oder anderswo wiederfinden, denn dank dichter Laden können sie nicht entkommen.
Pro Woche kann man damit 200 bis 500 Gramm Mehlwürmer züchten, die sich wie normales Fleisch verarbeiten lassen. Wie sie schmecken? Nussig bis neutral. Und ja, man kann mit so etwas Umsatz machen. Anfang 2018 waren es bereits über 1.000 Kunden in 50 Ländern, die sich die Ungersche Mehlwurmzuchtanlage zugelegt hatten. Mit ihnen hat Livin Farms bis dahin über 200.000 US-Dollar eingefahren.
Nicht nur Unger glaubt übrigens an die Idee. Livin Farms wurde in den HAX-Accelerator für Hardware-Startups in Shenzhen, China, aufgenommen, und die nachfolgende Kickstarter Kampagne erbrachte ganze 145.000 US-Dollar. Und auch in der Puls 4 Show 2 Minuten 2 Millionen beeindruckte die Gründerin 2018. Ein Investment scheiterte aber an der zu hohen Bewertung des Unternehmens.
Der Hive Explorer
Was wird 2019 passieren? Einerseits widmet man sich der Klientel der Zukunft. “Wir starten mit dem Hive Explorer durch, einem Starter-Hive für Leute, die sich mit dem Thema erstmals vertraut machen wollen”, erläutert Unger. Damit könne man Küchenreste rasch mittels Mehlwürmern verwerten und es werde automatisch Dünger gesammelt, der sich perfekt für jedwede Pflanzen eignet. Die Mehlwürmer selbst? Seien toll als Haustierfutter – von Hund bis Huhn, oder zum selbst probieren. Spannend sei die Produktion auch für Kids. “Wir glauben fest daran, dass man Kindern schon in der Schule und in der Familie wichtige Werte hinsichtlich Nachhaltigkeit, Technologie und Ernährung näher bringen sollte”, so Unger.
… und der Einstieg in die Massenproduktion
Andererseits will Unger, wie bereits erwähnt, in die Massenproduktion einsteigen, sprich in großem Stil Insekten für Futter- und Lebensmittel produzieren: “Wir werden Insekten als Inhaltsstoffe positionieren. Dabei geht es nicht nur um Nahrungsmittel, wo Mehlwurmpulver angewendet werden kann – beispielsweise in proteinreichen Backmischungen, sondern auch um Futtermittel, etwa für Haustiere, sowie Dünger.” Auf welchen Märkten sollen die Produkte platziert weden? “Europa und Amerika sind Primärmärkte, in Asien machen wir hauptsächlich die Herstellung des Equipments für die Zucht.” Bei einem solchen Skalierungs-Vorhaben kommt man natürlich mit den relativ kleinen Hives nicht wirklich weiter. Also heißt es, modulare Farmen in Container-Größe entwerfen. Hilfreich ist dabei eine Kooperation mit Agro Innovation Lab (AIL), der Förderplattform der RWA Raiffeisen Ware Austria und der BayWa. Livin Farms ist einer der sechs Finalisten, die in deren Acceleration-Programm aufgenommen wurden. Eine Pilotanlage gibt es bereits. Doch das ist noch nicht alles. Es gibt einen weiteren Grund, warum Livin Farms gerade jetzt durchstarten könnte: Die veränderte Gesetzes-Grundlage. Seit letztem Jahr gibt es nämlich eine neue Richtlinie innerhalb der Novel-Food-Verordnung der EU. Und die erlaubt jetzt auch den Verkauf von Lebensmitteln, die essbare Insekten enthalten. Das ist faktisch das offizielle Go für Insektenburger & Co in der ganzen EU. Für Livin Farms ist das aber nicht zuletzt auch ein Grund, das Unternehmen künftig wieder von Österreich aus zu betreiben, anstatt wie bisher aus Großbritannien und Hongkong.
Novel Foods sind neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die folgenden Kategorien zuzuordnen sind: 1. Lebensmittel mit neuer oder gezielt modifizierter primärer Molekularstruktur (z. B. synthetische, kalorienfreie Fettersatzstoffen); 2. Lebensmittel, die aus Mikroorganismen, Pilzen oder Algen bestehen oder aus diesen isoliert worden sind wie Algenöl; 3. Lebensmittel, die in Europa unbekannte, exotische Pflanzen und Pflanzenteile enthalten (z. B. Noni-Saft) oder aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten; 4. Lebensmittel, die mit neuen, nicht üblichen Verfahren hergestellt wurden, das eine Veränderung der Zusammensetzung oder Struktur bewirkt (z. B. hochdruckpasteurisierte Fruchtzubereitungen).
Livin Farms im 2 Minuten 2 Millionen-Pitch auf Puls vier
https://www.puls4.com/2-minuten-2-millionen/staffel-5/Videos/Beitraege/Livin-Farms-im-Pitch